50 Jahre Migration und Partizipation? – Altenhilfe für Migranten
Im Rahmen des Projektes „Köprü – Altenhilfe für Migranten durch niedrigschwellige Angebote unter Einbeziehung Ehrenamtlicher“ hat das Zentrum für Migranten
und Interkulturelle Studien – ZIS einen Fachtag mit dem Titel „50 Jahre Migration und Partizipation? – Altenhilfe für Migranten“ geplant und durchgeführt.
Er fand am 15. September 2010 im EuropaPunkt Bremen statt.
Die Referentinnen und Referenten waren Dr.Helen Baykara-Krumme von der Uni Chemnitz zum Thema: „Soziale Einbindungen in Familie und soziale Netzwerke: Werte, Erfahrungen und Konflikte“, Meltem Baskaya vom KompetenzZentrum für interkulturelle Öffnung in Berlin sowie Prof. Harm-Peer Zimmermann zum Thema „Altersbilder unter Muslimen in Deutschland“. Gudrun Münchmeyer-Elis vom ZIS hat erste Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Projekt „Köprü“ vorgestellt.
Die Moderation hatte die Journalistin Gülbahar Kültür.
Mit dem interessierten Fachpublikum – 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren gekommen – fand außerdem ein Austausch zu dem Thema statt.
Im folgendem möchten wir eine kurze Zusammenfassung der Beiträge präsentieren und darauf hinweisen, dass für das kommende Jahr eine Dokumentation des Fachtages geplant ist, ergänzt mit der Zusammenfassung einer Evalution zur Lebenssituation älterer Migranten in Bremen (ZIS 2005), einem Erfahrungsbericht aus der Projektarbeit (Projekt „Köprü“, 2010) sowie mit qualitativen Interviews mit älteren Menschen.
Die Begrüßung sowie einleitende Worte erfolgten durch den Sozialpädagogen Ali Elis, dem Vorsitzenden des ZIS. In einem kurzen geschichtlichen Rückblick auf die Arbeitsimmigration nach Deutschland verwies er unter anderem auf die Anwerbeabkommen von 1955-1968.
In einer Reihe von sozialstatistischen Daten und Fakten wurde darauf hingewiesen, dass im Land Bremen 170.000 Migranten leben, von denen ca. 31.000 älter als 55 Jahre sind, und dass die interkulturelle Öffnung vorangetrieben werden müsse.
In diesem Zusammenhang wurde auf das Projekt „Köprü“, eingegangen. Die Ziele sind, Teilhabe älterer Migranten am Altenhilfesystem zu fördern, über die Bekanntmachung von Angeboten, über Informationsveranstaltungen, über Beratungsarbeit sowie durch die Schulung und den Einsatz ehrenamtlicher Migranten-Seniorenbegleiter/innen, die gute Zugänge zu der Zielgruppe haben. Informationsveranstaltungen werden vornehmlich in Einrichtungen der Kooperationspartner durchgeführt, um auch auf diesem Wege Schwellenängste gegenüber Altenhilfeeinrichtungen abzubauen. Gelegentlich werden auch unkonventionelle Wege beschritten, wenn z. B. auf Hochzeiten oder in Cafés Informationen weitergeben werden. Dadurch soll die Zielgruppe direkt und persönlich erreicht werden. Durch die langjährige Arbeit des ZIS im Bremer Westen ist eine Vertrauensbasis aufgebaut worden. Viele Ältere werden durch das ZIS schon seit vielen Jahren begleitet. Es müsse nicht nur ein hohes Informationsdefizit ausgeglichen werden, sondern die Altenhilfe für Migranten müsse zu einem ganz selbstverständlichen Teil der Altenhilfe insgesamt werden. Wege zu finden, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen, ist ein wichtiger Bestandteil des Projektes „Köprü“.
Im Anschluss folgte das Referat von Dr. Helen Baykara-Krumme von der TU Chemnitz mit dem Titel „Altern in der Migration: Zur Lebenssituation älterer MigrantInnen in Deutschland“.
Einige wichtige Fakten in Bezug auf den demographischen Hintergrund sind in diesem Zusammenhang: Ältere AusländerInnen und MigrantInnen sind eine Gruppe mit wachsender demographischer Bedeutung und von enormer Heterogenität, die sich durch eine große Vielfalt der Lebenslagen und Lebensstile sowie der Migrationsgeschichten auszeichnet. Die Altersstruktur innerhalb der deutschen Bevölkerung zeigt deutlich eine „alternde Gesellschaft“. Dies gilt inzwischen auch für die ausländische bzw. Migrantenbevölkerung, auch wenn das Durchschnittsalter in dieser noch etwa zehn Jahre niedriger (bei 34,3 Jahre) liegt als in der deutschen. Der größte Teil der ausländischen Staatsangehörigen von 65 Jahren oder älter, nämlich ca. 27,6 Prozent, stammen aus der Türkei. Diese Daten beziehen sich auf das Ausländerzentralregister beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2007. In Bezug auf die Aufenthaltsdauer der über 64-jährigen Migranten lässt sich sagen, dass diese im Schnitt seit 33,8 Jahren in Deutschland leben. Des Weiteren gebe es insbesondere zwei große Migrantengruppen, zum einen die Gastarbeiter, die bei ihrer Einreise relativ jung waren und bei denen es sich überwiegend um Männer handelt, und die Spätaussiedler, bei denen es sich im Schnitt um ältere, in Familienverbünden Zugereiste aus Mittel- und Osteuropa handelt.
Bei den Bildungsabschlüssen lässt sich eine relativ hohe Heterogenität feststellen. Insbesondere Gastarbeiter, für deren berufliche Tätigkeiten kein hoher Bildungsstand vorausgesetzt wurde, hatten vergleichsweise geringe Erwerbseinkommen., was sich folglich auch in der sehr geringen Rente widerspiegelt. So beträgt die Einkommensarmut beispielsweise bei den türkeistämmigen Älteren ca. 44,8 Prozent, und liegt damit deutlich über jenem Anteil in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (9,2 Prozent). Die objektive Einkommenssituation spiegelt sich auch in der subjektiven Wahrnehmung wider. Insgesamt ist eine steigende Gefahr der Altersarmut zu verzeichnen. Dementsprechend hoch wiegen Ängste im Alter. Weitergehend stellt sich die Frage, ob und inwiefern Familie und soziale Netzwerke als spezifische Ressource in der Migration fungieren. Zunächst sei anzumerken, dass nur etwa 3 Prozent der älteren Migranten in drei-Generationen-Haushalten leben. Allerdings leben etwa ein Viertel der einheimischen und ein Drittel der Bevölkerung mit Migrationshintergrund mit einem erwachsenen Kind zusammen bzw. in einem Zwei-Generationen-Haushalt. In Hinblick auf die soziale Einbindung zeigt sich ein sehr ähnliches Bild von Personen mit und ohne Migrationshintergrund.
Im Fazit wurde auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen und politischen Sichtbarmachung der Bevölkerungsgruppe der älteren Migranten unter Berücksichtigung ihrer Heterogenität sowie ihrer spezifischen Ressourcen und Bedarfe hingewiesen. Zudem handele es sich bei den damaligen Pionieren der Migranten der ersten Wanderungsgeneration nun um die Pioniere des Alterns in der Migration. Notwendig seien daher Hilfestellungen in Form von Vorbildern und Wegweisern für Ältere und ihre Familien für die Gestaltung dieser Lebensphase.
Der nächste Beitrag, ein Vortrag der Sozialwissenschaftlerin Meltem Baskaya des Kompetenz Zentrums Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe Berlin, befasste sich mit dem Thema Kultursensible Altenhilfe.
Zunächst wurde ein Überblick gegeben, um wen es sich eigentlich konkret handelt, wenn von älteren MigrantInnen gesprochen wird: ArbeitsmigrantInnen, Flüchtlinge, (Spät-) AussiedlerInnen, jüdische Kontingentflüchtlinge sowie ältere ZuwanderInnen ohne Status. Mit den Anwerbeankommen von 1955-1968 wurden gesunde und junge Personen angeworben. Ebenfalls war ein Rotationssystem angedacht, welches beinhaltete, dass nach zwei Jahren Arbeit in Deutschland wieder die Rückkehr ins Heimatland erfolgen sollte und neue Gastarbeiter nach Deutschland kämen. Dies hat allerdings nicht funktioniert. Ein Grund hierfür war, dass die deutschen Firmen die Arbeitskräfte nicht erst ein halbes Jahr anlernen wollten, damit sie nach weiteren anderthalb Jahren wieder zurück in ihr Heimatland kehrten und die Firmen wieder neue Arbeitskräfte anlernen mussten. In Bezug auf das Zitat „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ wurde unter anderem auf die schlechten Wohn- und Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten verwiesen als auch auf die gesundheitliche Belastung, die sich aus der Schichtarbeit und dem Schieben von Doppelschichten ergaben. In Hinblick auf die älteren Migranten in Deutschland und die Frage, wie man in der Fremde altert, sei auf folgende Aspekte zu verweisen: Zum einen kommt es im Alter zu einem Rückzug in die vertraute Umgebung, womit häufig auch ein Rückgang der deutschen Sprachkompetenz verbunden sei. Eine weitere Möglichkeit die MigrantInnen im Alter gerne nutzen, sofern es ihr gesundheitlicher Zustand sowie ihre Finanzen zulassen, ist das Pendeln zwischen Heimatland und Einwanderungsland. Hilfsangebote werden aufgrund von Unwissenheit und Sanktionsbefürchtungen häufig gemieden. Angebote für ältere MigrantInnen richten sich an Personen ab 55 Jahre, da häufig ein vorzeitiges Ausschieden aus dem Berufsleben aufgrund des Wegfalls von Arbeitsplätzen zu beobachten ist. Außerdem gibt es starke gesundheitliche Belastungen sowie ein hohes Sterblichkeitsrisiko schon im frühen Alter. Ebenfalls existiert kein direktes Bild vom Altern in der eigenen Ethnie und es bestehen ein hohes Armutsrisiko durch ein niedriges Alterseinkommen sowie Verständigungsschwierigkeiten und Orientierungsprobleme gegenüber dem deutschen Altenhilfesystem. Es komme häufig zu einem Rückzug in die eigene ethnische Gruppe. Die grenzüberschreitende Mobilität, sprich das Pendeln zwischen Heimatland und Einwanderungsland, ist zu einem beliebten Modell geworden.
Das Handlungsfeld der Kultursensiblen Altenpflege trage dazu bei, dass eine pflegebedürftige Person entsprechend ihren individuellen Werten, religiösen Prägungen und Bedürfnissen leben könne. Im Umgang mit Hilfsangeboten der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen kommen seitens der MigrantInnen insbesondere Sprach- und Verständnisbarrieren sowie Unkenntnis über bestehende Angebote und die Vermeidung von Hilfsangeboten aufgrund von Sanktionsbefürchtungen zum Tragen. Die Barrieren seitens der ambulanten und stationären Gesundheitsdienste in der Arbeit mit MigranntInnen äußern sich in der „Warten-auf-Nachfrage-Struktur“, der Ratlosigkeit gegenüber dem Verhalten von Migranten (auch in sprachlicher Hinsicht, vgl. Sprichwörter), einer Überlastung im Tagesgeschäft und fehlenden Vernetzungsstrukturen unter anderem mit „Migranten-communities“.
Im Folgenden wurde das Projekt „Köprü“ von der Sozialwissenschaftlerin Gudrun Münchmeyer-Elis vorgestellt. Das Augenmerk richtete sich hierbei auf die ersten Erfahrungen sowie mögliche Tendenzen.
Das Projekt Köprü wird seit Dezember 2009 durch die Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales gefördert. Die Ergebnisse und Tendenzen, die hier dargestellt wurden, beziehen sich auf eine Gegenüberstellung der ersten Projekterfahrungen aus „Köprü“ und einer Evaluation aus dem Jahre 2005. Den Ergebnissen dieser Befragung liegt eine Grundgesamtheit von insgesamt 300 älteren türkischstämmigen Migranten zugrunde, bereinigt liegt der Umfang bei 271 Befragten. Ausgewählt für die Gegenüberstellung wurden Bekanntheit und Nutzung von Altenhilfeangeboten, die gegebenen Lebensumstände (Wohnsituation, familiäre Situation, soziales Umfeld und Einbindung im Stadtteil), Mobilität, finanzielle Hilfen und die Bindung an das Herkunftsland beziehungsweise an das Einwanderungsland.
Das Projekt baut Brücken zwischen MigrantInnen und dem Altenhilfesystem. Die Beratung wird in Form von sozialer Einzelberatung sowie Gruppenberatung angeboten und richtet sich an Ältere und auch an deren Angehörige. SeniorenbegleiterInnen werden durch ein speziell entwickeltes Programm geschult, das auf die Situation von MigrantInnen ausgerichtet ist, übernehmen aufsuchende Beratung und sind in eine Begleitgruppenarbeit eingebunden. Der Informationsvermittlung dienen regelmäßige Vorträge und Infoveranstaltungen. Das Projekt vermittelt zwischen der Zielgruppe und Trägern der Altenhilfe, von denen einige Kooperationspartner des Köprü-Projektes sind.
Weitere Kooperationspartner sind Einrichtungen im Stadtteil und darüber hinaus, die wichtige Aufgaben in Netzwerken zur Arbeit mit der Zielgruppe wahrnehmen.
Außerdem wird Öffentlichkeitsarbeit betrieben sowohl in Richtung der Zielgruppe als auch in Richtung (Fach)öffentlichkeit, um auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung der älteren MigrantInnen hinzuweisen.
Das Projekt wird evaluiert, um die Bedürfnisse der Zielgruppe zu analysieren sowie Gründe für die geringe Inanspruchnahme von Angeboten zu erkennen und neue Zugänge zu erarbeiten.
Erfahrungen und Tendenzen in Bezug auf die Altenhilfeangebote:
Im Hinblick auf die ambulante Pflege besteht noch immer ein sehr großer Aufklärungsbedarf, obwohl die Tendenz der Inanspruchnahme steigend ist. Im Jahre 2005 kannten nur ca. die Hälfte der Befragten Angebote der ambulanten Pflege. Da Pflege meistens selbstverständlich als familiäre Angelegenheit angesehen wird und über die Möglichkeiten gleichzeitiger oder zusätzlicher Unterstützung wenig bekannt ist, besteht hier ein hoher Beratungsbedarf. Steigendes Interesse und eine zunehmende Nutzung zeichnen sich ab.
Die Nutzung von Begegnungsstätten wird von MigrantInnen verhältnismäßig wenig genutzt, was in Zusammenhang mit der heterogenen Zielgruppe steht. Wenn jedoch zielgruppengerechte Angebote entwickelt werden, zeigt sich an der hohen Frequentierung auch der Bedarf. Als Beispiel kann hier die interkulturelle Begegnungsstätte des ZIS, in der es Angebote gibt, die nur von türkischstämmigen Älteren besucht werden aber auch „multikulturelle Angebote“, die von Menschen unterschiedlicher Herkunft und deutschen Teilnehmer/innen besucht werden.
Der Hausnotruf wird aufgrund des Kostenfaktors wenig genutzt, auch in Fällen, in denen es aufgrund von Hilfebedarf oder da die Personen alleine leben, anzuraten wäre.
2005 gaben 33% der Befragten an, die Kurzzeitpflege zu kennen. Nutzung kam nicht vor; die Situation zwingt inzwischen auch Migranten zur Wahrnehmung dieses Angebots.
Die Beratung älterer MigrantInnen wird beim ZIS stark nachgefragt, wobei auch weite Wege aus entfernten Stadtteilen in Kauf genommen werden. Es ist scheint notwendig, weitere stadtteilbezogene Beratungsangebote für ältere Menschen aufzubauen und zusätzliche BeraterInnen zu qualifizieren.
Ein Interesse an mobilen Mahlzeitdiensten (z.B. „Essen auf Rädern“) besteht bei alleinstehenden Männer, ist jedoch eng an die Essgewohnheiten der jeweiligen Person gekoppelt Da diese Angebote meistens stark auf die Deutsche Küche beschränkt sind, werden sie jedenfalls von türkischen Migranten gar nicht nachgefragt.
Die Tagespflege sowie Tagesbetreuung sind immer noch wenig bekannt, wären aber eine sehr wichtige Entlastung, da gerade in Migrantenfamilien die pflegenden Angehörigen – oft Ehepartner – selbst gesundheitlich eingeschränkt sind, manchmal sogar Enkelkinder betreuen oder Verpflichtungen gegenüber angehörigen im Herkunftsland haben.
Das negative Image von Pflegeheimen unter MigrantInnen, resultierend aus Erfahrungen in Herkunftsländern oder Erzählungen sowie überlieferten Einstellungen führen zu einer allgemeinen ablehnenden Haltung. Allein das Interesse sich zu informieren, ist von vornherein ziemlich gering. Diese Haltung führt auch dazu, dass nur selten oder erst allmählich differenziert wird zwischen unterschiedlichen Wohnangeboten für ältere Menschen. Hinsichtlich des Wohnens mit Service sind der Informationsbedarf und das Interesse an der Nutzung aber schon deutlich gestiegen.
Es zeichnet sich ab, dass der bestehende Bedarf in Einrichtungen der Altenhilfe an muttersprachlicher Betreuung, Geselligkeit und organisierten Angeboten sowie an Gemeinschaftsräumen für spontane Treffen und Feiern zunehmen wird. Im Hinblick auf die Lebensumstände zeigt sich Folgendes: Es besteht ein steigender Hilfebedarf mit zunehmendem Alter und die Zahl Alleinlebender nimmt zu. Außerdem wird der größere Pflegebedarf, der in den Familien geleistet wird, zunehmend auch von ambulanten Pflegediensten unterstützt. Gleichzeitig kommt es zu einer immer größer werdenden Doppelbelastung in vielen Familien, da immer mehr erwachsene Kinder bzw. die Schwiegertöchter erwerbstätig sind. Weiterhin ist der derzeitige Informationsstand über die Vielfalt von Hilfsangeboten ziemlich gering und Hilfe wird größtenteils erst in akuten Notsituationen nachgefragt.
Es existiert sowohl eine funktionierende Nachbarschaft im positiven als auch im negativen Sinn, sprich Unterstützung im Alltag auf der einen und soziale Kontrolle auf der anderen Seite, die womöglich verhindert, dass Hilfe von fremden Personen, wie Pflegediensten oder Betreuung in Einrichtungen angenommen wird. Kinder und Enkelkinder wohnen sehr häufig im gleichen Stadtteil, was den positiven Effekt hat, dass es praktische Unterstützung und wenig Vereinsamung gibt. Allerdings kann auch das nicht verallgemeinert werden. Es gibt auch ältere Migranten, die keine Kinder haben oder deren Kinder nicht oder selten erreichbar sind. Die Wohnzufriedenheit im Stadtteil leitet sich in erster Linie aus der Nähe der ihnen wichtigen Personen, den sozialen Kontakten sowie der ärztlichen Versorgung ab. Knapp ein Fünftel lebt in Eigentumswohnungen oder in Häusern und selten kommen die Personen aus ihrem eigenen Stadtteil hinaus. Zu dem Punkt Mobilität und Reisen ist zu sagen, dass die meisten der 2205 Befragten jährlich und auch über lange Zeiträume in die Türkei reisten, wenn es Gesundheit und Finanzen zuließen. Auch innerhalb Deutschlands bzgl. von Besuchen bei den Kindern spiegelt sich dieses Bild wider.
Zu den finanziellen Hilfen: 2005 lag der Bekanntheitsgrad von Wohngeld bei 90 Prozent, allerdings wurde es nur von rund 17 Prozent in Anspruch genommen. Grundsicherung sowie Leistungen der Pflegeversicherungen sind jeweils gut 66 bzw. 69 Prozent der Befragten bekannt, werden aber auch nur von rund einem Zehntel in Anspruch genommen.
Abschließend stellt sich noch die Frage, nach einem Zurückkehren in die Türkei oder ob man in Deutschland bleiben möchte. Grundsätzlich wollten rund 80 Prozent in Deutschland bleiben, von denen sich knapp 70 Prozent Hilfe von ihren Kindern erhofften, und etwa 20 Prozent meinten, sie würden bei Bedarf die Hilfe eines Pflegedienstes beanspruchen. Von dem Fünftel, das gerne in die Türkei zurückkehren würde, sagten knapp 10 Prozent, dass sie dort die Hilfe ihrer Kinder erwarteten, und nur eine Person der Befragten würde dort die Hilfe eines Pflegedienstes nutzen wollen.
Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann von der Philipps-Universität Marburg, hielt einen Vortrag mit dem Titel „Altersbilder unter Muslimen in Deutschland“. Es erfolgte die Auseinandersetzung mit folgenden Fragestellungen und Hypothesen: Ein Vergleich zwischen den islamischen Grundsätzen und den Altersbildern unter türkischen Migranten in Deutschland und ein weiterer Vergleich, der sich auf die Altersbilder von türkischen und deutschen Befragten bezieht. Hierzu ist er zunächst auf die islamischen Grundsätze und Regeln eingegangen, um anschließend die Altersbilder unter türkischen Migranten vergleichen zu können und ein Fazit zu ziehen.
In Hinblick auf die islamischen Grundsätze und Regeln wurden die Teilaspekte „Pflichten der Familie und Gemeinschaft“ sowie „Pflichten der Älteren selbst“ näher beleuchtet. Wichtige Punkte sind hierbei insbesondere die Wertschätzung des Alters, Ehrerbietung und Zuwendung sowie Güte und Gehorsam. Der Koran sehe diesbezüglich nur eine Ausnahme vor, die sich auf ungläubige Eltern bezieht, denen nicht gehorcht werden solle. Grundsätzlich sei der Rat älterer Männer teurer als die Tapferkeit junger Männer. Des Weiteren solle die Frau in der Rolle als Hausfrau und Mutter den aktiven Part in der Pflege übernehmen, wohingegen der Mann die anfallenden Entscheidungen zu treffen habe sowie für die Finanzen Sorge zu tragen habe. Die Familie gelte als erster und sicherster Garant für die Unterstützung im Alter und nimmt damit eine Schlüsselstellung ein. Pflegeheime werden daher als schlecht angesehen. Ambulante Pflege hingegen wird als gut angesehen, da sie nur unterstützend tätig wird. Bemerkenswert sind auch die Pflichten der Älteren, denen eine Mitverantwortung zu Teil wird. Sie sollen den jüngeren nicht zur Last fallen, sofern es nicht wirklich nötig sei und einer altersgerechten Arbeitsmöglichkeit nachgehen. Ebenfalls sollen sie rechtschaffende Autorität unter Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten schaffen, wobei sie im Zweifelsfall immer das letzte Wort haben.
Anschließend wurde in Hinblick auf die Altersbilder unter türkischen Migranten näher auf die Familienorientierung und das Alter sowie auf Unterstützungs- und Pflegefragen eingegangen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Familienorientierung und Wertschätzung im Alter nicht religiöse, sondern vielmehr kulturelle Gründe hat. Liebe und Vertrauen gelten als entscheidende Ressourcen der Familie im Alter und das sowohl bei Personen mit als auch ohne Migrationshintergrund. Bei Unterstützung sowie Pflegefragen handelt es sich allerdings aufgrund des Bildungsstandes und das damit verbundende (geringe) Einkommen vielmehr um ein soziales als um ein ethnisches Problem. Hinzu kommen häufig noch ein Informationsdefizit sowie der Wertekonflikt zwischen Fürsorge und Selbstsorgepflichten. Wichtig ist noch anzumerken, dass der Anteil der Heimgegner seit den 1990er Jahren rückläufig ist, was unteranderem auch in Zusammenhang mit den modernen Lebensbedingungen zu sehen ist.
Als Fazit ist folgendes festzuhalten: Realismus und Pragmatismus sind deutlich gewichtiger als religiöse Einstellungen. Außerdem zeigt der Vergleich zwischen türkischen und deutschen Befragten nur geringe Differenzen auf. Die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen: Unterschiede entdramatisieren, Genderproblematik klären, Informationsdefizite beheben, Kultursensible Altenpflege fördern sowie Eigeninitiativen von Migrantengruppen fordern und Forschungslücken schließen.
In der anschließenden Diskussionsrunde wurden unter anderem folgende Punkte thematisiert: Es ist die Frage aufgekommen, welche Möglichkeiten des Alterns es in Deutschland überhaupt gebe. Außerdem sei das Informationsdefizit über Altenhilfeangebote im Allgemeinen ein grundlegendes Problem. Eine Stimme aus dem Publikum machte auch anhand eigener Erfahrungen darauf aufmerksam, dass die intensive Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Thema Altwerden größtenteils erst im Alter stattfindet, da vorher andere Prioritäten gesetzt würden. Von dem Netzwerk Selbsthilfe wurde darauf verwiesen, dass es auch ein vielfältiges Angebot für die Angehörigen von Pflegebedürftigen gebe. Auch bestehe Unkenntnis über die Beratungsangebote der Pflegestützpunkte sowohl bei Personen mit als auch ohne Migrationshintergrund.
Als letztes wurde noch darauf hinzuweisen, dass für wissenschaftliche Studien zu einem Thema wie diesem auch immer ein politisches Interesse diesbezüglich von Nöten sei, da sonst keine Mittel hierfür bereit gestellt würden. Dementsprechend sei es notwendig, auch die Politik auf mögliche Problemlagen hinzuweisen, damit empirische Studien durchgeführt und Analysen betrieben werden können, um die Situation der Betroffenen verbessern zu können.
von Carina Bischoff
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